T 24

Kirnberger,  2. Fassung,  1771

Helmut Lange: Ein Beitrag zur Musikalischen Temperatur der Musikinstrumente, 1968

In dieser Temperatur wird das syntonische 81/80-Komma zu gleichen Teilen auf die beiden im Quintenzirkel benachbarten Quinten d-a und a-e verteilt, um den zum pythagoreischen Komma fehlenden Rest (das „Schisma“) wird die Quinte fis-cis verkleinert. Die anderen neun Quinten sind rein.    
Die 2. Fassung der Kirnberger-Stimmung ist eine Weiterentwicklung der ersten Fassung von 1766: Um die krasse Dissonanz des heulenden Wolfes der pythagoreischen (40:27)-Quinte d-a seiner ersten Temperaturfassung zu mindern (siehe T 01) schlug Kirnberger in seiner „Kunst des reinen Satzes“ vor, das syntonische Komma auf die beiden Quinten d-a und a-e zu verteilen (Seite 486)

Wilhelm Dupont: Geschichte der musikalischen Temperatur, 1935

Wie auch zu „Kirnberger 3. Stimmung“ (siehe T 93) fand sich für die 2. Fassung in der Literatur auch noch eine andere Weise, das pythagoreische Komma im Quintenzirkel zu verteilen: Bei Dupont (Seite 96) wird Kirnberger mit einer Intervall-Verteilung zitiert, in der „alle Töne der reinen diatonischen Leiter beybehalten worden (sind), außer der Ton A, der anstatt 3/5 oder 162/270 hier 161/270 und also um 1/162 oder ein halbes Comma höher genommen ist, damit er als die Quinte von D zu brauchen sey. Denn jetzt ist diese Quinte D-A und folglich auch die Quinte A-e nur um ein halbes Comma niedriger als die ganz reine Quinte 2/3. Diese zwey Quinten ausgenommen sind alle übrigen ganz rein. Denn daß die Quinte Fis-cis um den zehnten Teil eines Comma unter sich schwebt, kann kein Ohr merken, so fein sein Gefühl auch immer seyn mag.“

C

 

CIS

 

D

 

DIS

 

E

 

F

 

FIS

 

G

 

GIS

 

A

 

B

 

H

 

c

0

 

90

 

204

 

294

 

386

 

498

 

590

 

702

 

792

 

895

 

996

 

1088

 

1200

 

90

 

114

 

90

 

92

 

112

 

92

 

112

 

90

 

103

 

101

 

92

 

112

 

In diesem Zitat wird der Quotient 1/162 bei Kirnberger mit „ein halbes Komma“ beschrieben, mathematisch nicht ganz genau, denn es sind die beiden Quotienten 161/160 bzw. 162/161, um welche die Quinten D-A bzw A-E zu vermindern sind, damit zwischen den Tonstufen D (Intervallquotient 9/8) und E (Intervallquotient 5/4) für die Tonstufe A der Intervallquotient 270/161 erreicht wird (bei Kirnberger sind die Intervallquotienten mit der kleineren Zahl im Zähler notiert). Die beiden unterschiedlich großen Intervalle haben die Cent-Werte 10.78654 bzw. 10.71975 und ergeben zusammengenommen mit 21.50629 Cent den Wert des syntonischen Kommas.        
Ebenso ist der für "kein Ohr merkbare zehnte Teil eines Comma" bei der Quinte Fis-cis bei exakter Berechnung des "Schisma" nicht 2.1506 (das ist 1/10 des syntonischen Kommas) sondern 1.953721 Cent.

         (a)  270/161   x  3/2  :  162/161    :  2  =    5/4     (e)   
         (d)    9/8     x  3/2  :  161/160          =  270/161   (a)   

Mit dem ganzzahligen 270/161-Zahlenverhältnis wird der Quotient mit der irrationalen Zahl 3x51/2/4 für die Tonstufe a umgangen, welcher bei dem halbierten Komma entsteht. Der Unterschied ist 895.1118 (3x51/2/4) minus 895.0785 cent (270/161) = 0.0333 cent     Tonintervall-Quotienten, bei welchen die Zahl im Zähler um 1 größer ist als die im Nenner, werden auch "überteilige Proportionen" genannt, im Barock als "ratio superpartikularis" bezeichnet. Diese Temperaturen heißen deshalb "reine Temperaturen", unabhängig von der Anzahl der dabei entstehenden reinen Quinten in der Folge des Quintenzirkels.

rationalisierte Kommateilung in der zweiten Fassung der Kirnberger-Temperatur, 1771

                  Verteilung des pK  (23.460 Cent)                Verteilung des pK im Quintenzirkel

 

                f     --------   c                    3/2    .   3/2                   

                b     --------   f                    .             .                  

                es    --------   b              3/2          c           3/2           

                as    --------   es                   f             g                  

               des    --------   as               .                      .             

               fis  - 01.95370  des                  b                 d               

                h     --------  fis          3/2                           - 161/160   

                e     --------   h               .  es       +          a .            

                a   - 10.71975   e                                                     

                d   - 10.78655   a           3/2    as                 e   - 162/161   

                g     --------   d                .                     .              

                c     --------   g                   des           h                   

              ____________________              3/2         fis          3/2           

                                                      .              .                 

                    - 23.46000                               .                         

                                                 - Schisma         3/2                  

Manfred Tessmer: Wie war Bachs Wohltemperiertes Clavier gestimmt? Temperaturfragen im Streit der Meinungen, 1994

Tessmer hat nach dem Vorbild Kirnbergers eine Tabelle für die Temperatur "Johann Philipp Kirnbergers 2. Stimmung (1771)" mit auf eine Dezimalstelle gerundeten Cent-Zahlen so eingerichtet, dass "sämtliche in einer 12stufigen Oktavteilung möglichen Intervalle ohne weitere Rechnungen sofort ablesbar" sind (Seite 198). In einer Kopfleiste die Kommaverteilung und die Lage der Quinten mit genauen Cent-Zahlen angegeben:

Die Quinten D-A und A-E sind um 1/2 syntonisches Komma verkleinert (691.235 bzw.691.168 C).      
Die Quinte Fis-Cis ist um ein Schisma verkleinert (700.001 C).  
Die übrigen Quinten sind rein.

Tessmer hat mit den beiden unterschiedlichen Zahlen für die Quinten D-A und A-E nicht die Teilung des syntonischen Kommas in zwei gleichgroße Hälften beschrieben, sondern die "rationale Lösung": Die um ein 161/160-Intervall geminderte Quinte ist 691.168 cent, die um ein 162/161-Intervall verkleinerte ist 691.235 Cent groß.

Wolfgang Theodor Meister: Die Orgelstimmung in Italien und Süddeutschland, 1991

„Nr.2 beruht auf den gleichen Intervallproportionen (wie Kirnberger Nr.1, siehe T 01, d.Verf.), nur wird nach dem Legen der Stimmung A zum E hin verschoben, bis die Quinten D-A und A-E etwa gleich gut sind. Wolfsquinten D-A-E von je 691 Cents, Schismaquinte Fs-Cs wie in Nr. 1.“ (Seite 112)

Hans-Joachim Schugk:
Praxis barocker Stimmungen und ihre theoretischen Grundlagen, 1980
 

Bei Schugk ist „Kirnberger II, 1776“ beschrieben (siehe T 40) mit einer ähnlichen Kommaverteilung: Ebenfalls werden die beiden benachbarten Quinten d-a-e je um ein halbes Komma vermindert, da aber das pythagoreische Komma geteilt wird, bleibt kein Schisma-Rest, um den eine weitere Quinte gemindert werden müsste.