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Keplers  System

Michael Dickreiter: Der Musiktheoretiker Johannes Kepler (1973): "Keplers System ist ein sog. >Auswahlsystem<, das eine bestimmte Auswahl reiner Intervalle des natürlich-harmonischen Tonsystems vereint." (Seite 23): Nach der Untersuchung,  "welche Konsonanzen bei der Teilung einer Saite vom Gehör gebilligt werden ... erhält er ... die beiden Terzen 4/5 und 5/6 und die beiden Sexten 3/5 und 5/8, sowie Quart 3/4, Quint 2/3 und Oktav 1/2." (Seite 156)

"Unter >systema< versteht Kepler eine Materialleiter. Sie entspreche dem System der Notenlinien auf dem Papier ... Das >systema naturale< beginnt schon wie bei Guido von Arezzo bei G ..., das wie dort in der Tonhöhe relativ zu verstehen ist ... Keplers Materialleiter enthält zwölf Stufen, von denen sieben durch die harmonischen Teilungen bestimmt werden: 1/1(G), ... , 5/6(B), 4/5(H), 3/4(c), ... , 2/3(d), 5/8(es), 3/5(e), ... , 1/2(g) ... . Zur Bestimmung von A und f stellt er folgende Überlegung an: Durch die harmonischen Teilungen wird die Quart H-e oder B-es in einen großen und einen kleinen Ganzton sowie einen Halbton zerlegt, entsprechend den Intervallen 9/8, 10/9 und 16/15. Also darf auch die Terz in keine anderen Intervalle als diese zerlegt werden. Die gesuchten Töne A und f ergeben sich aber durch Teilung der großen und kleinen Terzen G-H und G-B bzw. es-g und e-g. Mathematisch kann demnach die große Terz nur in 9/8 und 10/9, die kleine Terz nur in 9/8 und 16/15 geteilt werden. (Seite 154,155)

Soll der Ton A sowohl die große als auch die kleine Terz teilen, so muß notwendig an unterer Stelle 9/8 stehen. Denn würde man an unterste Stelle 10/9 setzen, so würde die kleine Terz in die Intervalle 10/9 und 27/25 geteilt werden, 27/25 sei aber nicht zulässig, da es sich nicht auf natürliche Weise bei der Teilung der Quart ergebe. Dieselbe Überlegung gilt für die Bestimmung des Tons f, der somit um 9/8 von g entfernt ist.

Die verbleibenden drei Töne Gis, cis und fis ergeben sich sämtlich aus der Teilung eines großen Ganztones 9/8 in ein Limma 25/24 und einen Halbton 16/15, der an die obere Stelle kommt ... Die Tonbeziehungen des Systems ergeben sich nicht aus einer Quintenschichtung - wie im pythagoreischen System - ..."

Die Intervalle werden angegeben sowohl für alle zwölf Tonstufen der Oktave (bezogen auf G) wie für jeweils benachbarte Töne (Seite 156):

        1/1  -  128/135 -  8/9   -   5/6   -   4/5   -  3/4      -   32/45 -   2/3   -   5/8   -   3/5   -   9/16   -    8/15  -  1/2
        
128/135  -  15/16 - 15/16 - 24/25 - 15/16 - 128/135 - 15/16 - 15/16 - 24/25 - 15/16 - 128/135 - 15/16
  
            L               S            S           D          S              L             S            S           D          S             L             S

                                                      (S = Semitonium, D = Diesis, L = Limma)

"Keplers >diesis< wird heute mit >kleinem Chroma< oder >kleinem chromatischen Halbton< bezeichnet, sein Limma mit >großem Chroma< oder >großem chromatischen Halbton<".(Seite 153)

Anzumerken ist, dass der Begriff "Semitonium" den natürlich-harmonischen Halbton der Reinen Stimmung meint und >Diesis< und >Limma< mit folgenden Intervallquotienten definiert sind (Riemann, Musiklexikon, Sachteil, 1967, Seite 411): große Diesis = 648/625, kleine Diesis = 128/125, Limma = 256/243)

Der allgemeinen Darstellungsweise dieser Studie entsprechend ist die Tonintervall-Verteilung aus der von Kepler gegebenen Lage G-g in die Tonstufenfolge c-c gerückt. Das Frequenzbeispiel ist ohnehin willkürlich auf die Tonstufe a mit 440 Hz festgelegt und wird nur zwecks besserer Vergleichbarkeit in allen Temperaturen mit dieser Bedingung so verwendet. Eine Umrechnung auf die Grundtonstufe G mit beispielsweise 99 Hz geschieht durch Multiplikation mit den Dezimalzahlen.

Keplers System vor der "letztgültigen" Fassung

In der Anmerkung 84 (Seite 226) wird eine 12-stufige Quotientenskala G-g genannt mit 15/16 (für Gis, Halbtonintervall)und 25/36 (für cis, Oktavenmitte), welche vor dem in >Harmonices Mundi< gegebenen "letztgültigen Tonsystem" an diesen Stellen abweicht:

Die Intervalle werden angegeben sowohl für alle zwölf Tonstufen der Oktave (bezogen auf G) wie für jeweils benachbarte Töne (das Schema ist analog zur Darstellung oben):

        1/1  -  15/16   -     8/9   -    5/6   -   4/5   -  3/4      -   25/36 -   2/3   -   5/8   -   3/5   -   9/16   -    8/15  -  1/2
          
15/16  - 128/135  - 15/16 - 24/25 - 15/16 – 25/27 -  24/25 - 15/16 - 24/25 - 15/16 - 128/135 - 15/16
    
          S             L               S            D           S           gL           D           S           D           S             L             S

                                                      (S = Semitonium, D = Diesis, L = Limma, gL = großes Limma)

Mit dem Quotienten 27/25 = 1.08 oder 133.238 cent (großes Limma) ist das Halbtonintervall f-fis (c-cis bei Kepler wegen der Grundtonstufe G) ca 1/3 größer als ein gleichstufig- temperierter Halbton (100 cent), die Quinte h-fis (fis-cis bei Kepler) ist mit 192/125 = 1.536 oder 743.013859268... cent nahezu um ein Vierteltonintervall größer als die gleichstufig temperierte Quinte (700 cent).

In der Anmerkung 86 (Seite 226) wird darauf hingewiesen, dass Kepler irrt, da er annimmt, ein System von A. Reinhard (Monochordum, Leipzig 1604), auf welches er sich bezieht, beginne bei G: Tatsächlich aber ist Reinhards Bezugston c ... Derselbe Irrtum unterlief Kepler auch bezüglich Ptolemaios, Zarlino und Galilei.“

„Keplers System“ beruht auf der „reinen Stimmung“, die Intervallquotienten haben kleine ganze Zahlen in Zähler und Nenner; eine Umorientierung von G nach c als Bezugston ändert die Abfolge der Tonintervalle, nicht aber den Stimmtyp.

Wilhelm Dupont: Geschichte der musikalischen Temperatur, 1935

Seite 65:"(Es) handelt(e) sich nicht um Temperaturen im eigentlichen Sinne, sondern um eine Auswahl rein gestimmter Werte, denn anstatt eine Ausgleichung der Kommaunterschiede anzustreben, wurde unter Berücksichtigung dieser Unterschiede eine kleine Anzahl vollkommen reiner Werte genommen. Systeme dieser Art sind natürlich überhaupt keine Temperaturen, obwohl sie gewöhnlich für solche ausgegeben worden sind. Hierher gehört auch das zwölfstufige Auswahlsystem, welches Johann Kepler aufstellte": (zitiert nach Harmonicen mundi lib. III. 1619):

„Die sogenannten Auswahlsysteme haben zur Entwicklung einer wirklich brauchbaren temperierten Stimmung nichts beitragen ... J.G. Neidhardt nannte solch ein System eine >Temperatur ohne Temperatur<.“ (Seite 67)