T 97

Stimmung der Gabler - Orgel,  Weingarten nach der Restaurierung,  1983

Manfred Tessmer (1994) erklärt zu seinen Tabellen historischer Stimmungen, dass sie „in ihrer Einrichtung einem Vorbild Kirnbergers“ folgen,der „verwendete dort allerdings ... die damals in der Musiktheorie üblichen Verhältniszahlen (Seite 192). Es sind sämtliche in einer 12-stufigen Oktavteilung möglichen Intervalle ohne weitere Rechnungen sofort ablesbar anhand von Cent-Zahlen mit einer Dezimalstelle.

In einer Kopfzeile zu der Tabelle „Die Stimmung der Gabler-Orgel in Weingarten nach der Restaurierung 1983“ ist vermerkt (Seite 201):

„Die probeweise wiederhergestellte Originaltemperierung Gablers wurde von der Expertenkommission gehörsmäßig anhand Bachscher Orgelmusik überprüft und als inakzeptabel befunden.“ (Friedrich Jakob, Die große Orgel der Basilika zu Weingarten, Männedorf 1986, S.77) 
Hier die Stimmung der restaurierten Orgel nach gefundenem Kompromiss von 1983.“

Mit diesen Angaben ist die Intervallverteilung für die Stimmung der Gabler-Orgel in Weingarten für mikrotonale Vergleiche unzureichend beschrieben. Messungen von Tonfrequenzen an bestehenden Instrumenten sind in der Regel nicht so genau wie Vorgaben aus theoretischen Temperatur-Modellen.

Um eine Vergleichbarkeit der vorgefundenen Stimmung mit den anderen in dieser Studie vorgestellten musikalischen Temperaturen zu erleichtern, ist wie bei diesen eine Verteilung des pythagoreischen Kommas im Quintenzirkel notiert, aus der heraus die Skalen berechnet wurden und die auf ganze Cent in Tessmers Tabelle gerundeten Zahlen sind erweitert angegeben zur Beschreibung der Kommateile, um welche die Intervalle geändert sind. Dabei sind die Quotienten ganz genau, die Centwerte, Dezimal- und Frequenzzahlen gerundet: Es wurde darauf geachtet, dass dabei die Kommateilung übersichtlich blieb.

Zunächst die Feststellung der Quintengrößen (Zahlen in Cent):

         gegebene Zahlen  Quinte   Rück-
                                 oktavierung

               (f)   499 + 701 - 1200 =    0  (c)
               (b)  1001 + 698 - 1200 =  499  (f)
             (dis)   301 + 700        = 1001  (b)
             (gis)   798 + 703 - 1200 =  301  (dis)
             (cis)    95 + 703        =  798  (gis)
             (fis)   591 + 704 - 1200 =   95  (cis)
               (h)  1091 + 700 - 1200 =  591  (fis)
               (e)   394 + 697        = 1091  (h)
               (a)   895 + 699 - 1200 =  394  (e)
               (d)   196 + 699        =  895  (a)
               (g)   698 + 698 - 1200 =  196  (d)
               (c)     0 + 698        =  698  (g)

Bei der Erweiterung der gegebenen Zahlen zu Kommateilen, mit welchen die Skalen berechnet sind, wurde darauf geachtet, dass dabei die Kommateilung übersichtlich blieb. Für die zwölf im Quintenzirkel aufeinander folgenden Quinten folgt daraus (Zahlen in cent):

 

 

       gegebene  -  erweiterte Zahlen    reine Quinte  Kommateil
         Quinte  Änderung

   f - c    701 - 0.02250 = 700.97750  =   701.0550  -  0.97750  (1/24 pK)
   b - f    698 – 0.44375 = 697.55625  =   701.9550  -  4.39875  (3/16 pK)
  es - b    700  +/-  0   = 700.00000  =   701.9550  -  1.95500  (1/12 pK)
 gis - es   703 + 0.42125 = 703.42125  =   701.9550  +  1.46625  (1/16 pK)
 cis - gis  703 – 0.06750 = 702.93250  =   701.9550  +  0.97750  (1/24 pK)
 fis - cis  704 – 0.09000 = 703.91000  =   701.9550  +  1.95500  (1/12 pK)
   h - fis  700  +/-  0   = 700.00000  =   701.9550  -  1.95500  (1/12 pK)
   e - h    697 + 0.06750 = 697.06750  =   701.9550  -  4.88750  (5/24 pK)
   a - e    699 + 0.02250 = 699.02250  =   701.9550  -  2.93250  (1/8  pK)
   d - a    699 + 0.02250 = 699.02250  =   701.9550  -  2.93250  (1/8  pK)
   g - d    698 + 0.04500 = 698.04500  =   701.9550  -  3.91000  (1/6  pK)
   c - g    698 + 0.04500 = 698.04500  =   701.9550  -  3.91000  (1/6  pK)

Die bei Tessmer mit 703 Cent gleichgroßen Quinten cis-gis und gis es sind unterschiedlich erweitert zu den Kommateilen 1/24 und 1/16 pK. Der Unterschied ist 1/48 pK oder 0.48875 Cent.

Mit der gesamten Intervallteilung zeigen Kennlinienverlauf und Profil dieser Temperatur sowohl die Merkmale des „Stimmtyp mitteltönig“ wie die des „Stimmtyp wohltemperiert“.

Wolfgang Theodor Meister: Die Orgelstimmung in Italien und Süddeutschland, 1991

Von Meister ist die „Gabler-Orgel in Weingarten von 1750“ beschrieben (siehe T 67). Diese weist mit einer ungleichmäßigen, elf Quinten betreffenden Quintenreduzierung und einer mit über 17 Cent überschwebenden Ausgleichsquinte gis-es so deutlich die Merkmale der Miteltönigkeit auf, dass sie der Silbermann-Stimmung“ (siehe T 63) vergleichbar ist.           
Für dasselbe Weingartener Instrument beschrieben ist die Intervallverteilung bei Meister deutlich ausgeprägter mitteltönig als die von Tessmer beschriebene.

Franz Josef Ratte: Temperierungspraktiken im süddeutschen Orgelbau, 1990

Von Ratte ist eine Temperatur „Gabler-Orgel Weingarten, 1750“ ohne den Zusatz „ ... nach der Restaurierung“ angegeben worden (siehe T 53): Elf Quinten sind um je 23/132 des pythagoreischen Kommas gemindert, die gis-es-Quinte ist um 21.508 Cent (ein Intervall von der Größe des 81/80-syntonischen Kommas) vergrößert.

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Meister und Ratte beschreiben die Stimmung der Gabler-Orgel deutlich ausgeprägt als „mitteltönig“, Tessmer wegen der drei gering überschwebenden Quinten fis-cis-gis-dis als „schwach mitteltönig ( – oder „wohltemperiert“, wenn die Verteilung des pK auf die Quinten im diatonischen Teil des Quintenzirkels betont wird?).

Die Cent-Zahlen lassen erkennen, dass bei Ratte ein theoretisches Modell aus dem Jahre 1750 gezeigt wird, denn alle elf der zwölf Quinten des Zirkele sind um 23/132 des pythagoreischen Kommas (pK) gemindert (entsprechend 4.088 Cent), die zwölfte gleicht mit 11/12 des pK (21.508 Cent) den sonst entstehenden Unterschuss des Zwölf-Quinten-Intervalles im Vergleich zum Sieben-Oktaven-Intervall aus.

Die unterschiedlich großen Quintintervalle deuten darauf hin, dass bei Tessmer und Meister individuelle Messungen am restauriert gestimmten Instrument, nicht ein theoretisierendes Modell beschrieben ist.