T 92

Temperatur  von  Arnolt  Schlick  (1511)  nach  M. Tessmer

Manfred Tessmer: Wie war Bachs Wohltemperirtes Clavier gestimmt?, 1994

Tessmer erklärt zu seinen Tabellen historischer Stimmungen, dass sie „in ihrer Einrichtung einem Vorbild Kirnbergers“ folgen, der „verwendete dort allerdings ... die damals in der Musiktheorie üblichen Verhältniszahlen (Seite 192). Es sind sämtliche in einer 12-stufigen Oktavteilung möglichen Intervalle ohne weitere Rechnungen sofort ablesbar anhand von Cent-Zahlen mit einer Dezimalstelle.

In einer Kopfzeile zu der Tabelle "Temperatur von Arnolt Schlick (1511) nach M. Tessmer"
(Seite 196) ist angegeben:      
"Die Großen Terzen sind >nitt gut, sonder alle zu hoch< 
Die Terzen C-E, F-A, G-H sind >besser ... dann die andern<          
Die Quinten Cis–Gis und Gis–Dis sind >nicht gut  sonder schwebent in die höch gezogen<
Die folgende Tabelle gibt eine von mehreren hypothetischen Möglichkeiten wieder.“

Die Großen Terzen werden verglichen mit der 5/4-reinen Großterz (386.314 Cent) und sind um unterschiedliche Beträge zu groß, die beiden >schwebent in die höch gezogenen< Quinten sind ebenfalls unterschiedlich groß: cis-gis ist um fast 9 Cent, gis-dis um fast 2 Cent größer, verglichen mit der 3/2-reinen Quinte (701.955 Cent).

Die zum Vergleich mit anderen Intervallverteilungen genannten Kommateile führen zur Erweiterung der Zahl der angebbaren Dezimalstellen und zu noch genaueren Intervall-Quotienten für die von Tessmer in der Tabelle beschriebene hypothetischen Möglichkeit für „Schlick, 1511“:

Die sechs Quinten in der diatonischen Hälfte des Quintenzirkels f bis h sind um je 3/16 des pythagoreischen Kommas (entsprechend um 4.39875 Cent auf 697.55625 Cent) gemindert, die sich an diese Quintenkette nach beiden Seiten anschließender je zwei Quinten h-fis-cis und b-f-c sind um je 1/12 pK (entsprechend um 1.955 Cent auf 700.000 Cent) verkleinert.

Hans-Joachim SCHUGK beschreibt „Schlick, 1511“ mit dem Hinweis „H. Lange hat diese Stimmung rekonstruiert: „11 um 1/5 Pyth.Komma unterschw. Quinten“ und eine um 6/5 pK überschwebenden Quinte Des-As. Die Minderung der elf Quinten um je 1/5 pK entspricht 4.692 Cent auf 697.263 Cent, die Vergrößerung der Restquinte um 6/5 pK entspricht 26.152 Cent auf 730.107 Cent. (siehe T 45)

Im Vergleich zu der „Lange/Schugk Stimmung“ benötigt die „Tessmer-Version“  nur etwa 1/3 als Quintenreduktion als Ausgleich zur Schließung des Quintenzirkels. Beide Stimmungen gehören mit unterschiedlich starker Form „Stimmtyp mitteltönig“

Mit diesen Angaben ist die Intervallverteilung für die Stimmung der Gabler-Orgel in Weingarten für mikrotonale Vergleiche unzureichend beschrieben. Messungen von Tonfrequenzen an bestehenden Instrumenten sind in der Regel nicht so genau wie Vorgaben aus theoretischen Temperatur-Modellen.

Um eine Vergleichbarkeit der vorgefundenen Stimmung mit den anderen in dieser Studie vorgestellten musikalischen Temperaturen zu erleichtern, ist wie bei diesen eine Verteilung des pythagoreischen Kommas im Quintenzirkel notiert, aus der heraus die Skalen berechnet wurden und die auf ganze Cent in Tessmers Tabelle gerundeten Zahlen sind erweitert angegeben zur Beschreibung der Kommateile, um welche die Intervalle geändert sind. Dabei sind die Quotienten ganz genau, die Centwerte, Dezimal- und Frequenzzahlen gerundet: Es wurde darauf geachtet, dass dabei die Kommateilung übersichtlich blieb.

Zunächst die Feststellung der Quintengrößen (Zahlen in Cent):

           gegebene Zahlen  Quinte   Rück-
                                   oktavierung

               (f)   502.5 + 697.5 - 1200 =    0.0  (c)
               (b)  1002.5 + 700.0 - 1200 =  502.5  (f)
             (dis)   302.5 + 700.0        = 1002.5  (b)
             (gis)   798 5 + 704.0 - 1200 =  302.5  (es)
             (cis)    87.5 + 711.0        =  798.5  (gis)
             (fis)   587.5 + 700.0 - 1200 =   87.5  (cis)
               (h)  1087.5 + 700.0 - 1200 =  587.5  (fis)
               (e)   390.0 + 697.5        = 1087.5  (h)
               (a)   892.5 + 697.5 - 1200 =  390.0  (e)
               (d)   195.0 + 697.5        =  892.5  (a)
               (g)   697.5 + 697.5 - 1200 =  195.0  (d)
               (c)     0.0 + 697.5        =  697.5  (g)

Bei der Erweiterung der gegebenen Zahlen zu Kommateilen, mit welchen die Skalen berechnet sind, wurde darauf geachtet, dass dabei die Kommateilung übersichtlich blieb. Für die zwölf im Quintenzirkel aufeinander folgenden Quinten folgt daraus (Zahlen in cent):

 

        gegebene         erweiterte Zahlen   reine Quinte     Kommateil   
          Quinte   Änderung

   f - c    697.5 + 0.05625 = 697.55625   =   701.0550  -  4.39875  (3/16 pK)
   b - f    700.0  +/-  0   = 700.00000   =   701.9550  -  1.95500  (1/12 pK)
  es - b    700.0  +/-  0   = 700.00000   =   701.9550  -  1.95500  (1/12 pK)
 gis - es   704.0 - 0.09000 = 703.91000   =   701.9550  +  1.95500  (1/12 pK)
 cis - gis  711.0 - 0.24750 = 710.75250   =   701.9550  +  8.79750  (3/8  pK)
 fis - cis  700.0  +/-  0   = 700.00000   =   701.9550  -  1.95500  (1/12 pK)
   h - fis  700.0  +/-  0   = 700 00000   =   701.9550  -  1.95500  (1/12 pK)
   e - h    697.5 + 0.06750 = 697.55625   =   701.9550  -  4.39875  (3/16 pK)
   a - e    697.5 + 0.05625 = 697.55625   =   701.9550  -  4.39875  (3/16 pK)
   d - a    697.5 + 0.05625 = 697.55625   =   701.9550  -  4.39875  (3/16 pK)
   g - d    697.5 + 0.05625 = 697.55625   =   701.9550  -  4.39875  (3/16 pK)
   c - g    697.5 + 0.05625 = 697.55625   =   701.9550  -  4.39875  (3/16 pK)

Die Centzahlen sind in der Tabelle mit einer Dezimalstelle entweder auf ganze oder auf halbe Cent gerundet. Zur besseren Vergleichbarkeit mit den übrigen musikalischen Temperaturen dieser Studie sind die Zahlen erweitert angegeben. Diese ergeben sich aus der Kommateilung, welche den gegebenen Zahlen am nächsten kommt:

Die Intervallverteilung ist gekennzeichnet durch die beiden benachbarten überschwebenden Quinten cis-gis-es. Mit der Verminderung der Quinten in der Größenordnung der Silbermann-Quinte (siehe T 63) beschreibt Tessmer die Temperatur von Arnolt Schlick (1511) mit den Merkmalen des „Stimmtyp mitteltönig“, dessen Schärfe allerdings dadurch gemildert wird, dass die Ausgleichsquinte auf zwei Quinten verteilt ist, besonders aber durch die vier gleichstufig-großen Quinten h-fis-cis und dis/es-b-f, mit denen verhindert wird, dass mit der um ca. 9 cent überschwebenden Ausgleichsquinte gis/as-dis/es zeigen Kennlinienverlauf und Profil dieser Temperatur. Die Verteilung des beim „Stimmtyp mitteltönig“ auszugleichenden Tonintervalles auf zwei benachbarte Quinten führt zur „Schlickschen Rundung“ der Kennlinie 2 (siehe T 27/ Billeter, T 28 und T 49).