T 93

Johann  Philipp  Kirnbergers  3. Stimmung  (1779?)

Manfred Tessmer: Wie war Bachs Wohltemperirtes Clavier gestimmt?, 1994

Tessmer erklärt zu seinen Tabellen historischer Stimmungen, dass sie „in ihrer Einrichtung einem Vorbild Kirnbergers“ folgen, der „verwendete dort allerdings ... die damals in der Musiktheorie üblichen Verhältniszahlen (Seite 192). Es sind sämtliche in einer 12-stufigen Oktavteilung möglichen Intervalle ohne weitere Rechnungen sofort ablesbar anhand von Cent-Zahlen mit einer Dezimalstelle. Im Tabellenteil seines Beitrages >Wie war Bachs Wohltemperiertes Clavier gestimmt? Temperaturfragen im Streit der Meinungen, (1994)< macht Manfred Tessmer genaue Angaben zu den drei Stimmungen von Johann Philipp Kirnberger aus den Jahren 1766 (1.Stimmung, siehe T 01), 1774 (2.Stimmung, siehe T 24) und 1779 (3.Stimmung), bei der letzten allerdings mit einem Fragezeichen hinter der Jahreszahl.

In einer Kopfzeile zu der Tabelle "Johann Philipp Kirnbergers 3. Stimmung (1779 [?]) ist angegeben:      
"Die Quinten C-G-D-A-E sind um 1/4 des syntonischen Kommas verkleinert (696.578 C)  Die Quinte Fis-Cis ist um ein Schisma verkleinert (700.001 C)   
Die übrigen Quinten sind rein.

Herbert Anton Kellner: Wie stimme ich selbst mein Cembalo, 1979

Kellner stellt einen Zusammenhang zwischen der Großterz-Mitteltönigkeit und der Kirnbergerstimmung her: „Die >unerträglich heulende Wolfsquint< zwischen as und es sowie die vier dissonanten Terzen der Großterz-Mitteltönigkeit (siehe T 60) schließen alle Tonarten aus, in welchen sie vorkommen würden. Ein praktischer Ausweg gegen diese Beschränkungen besteht in der Temperatur von Kirnberger. Die Kirnbergerstimmung III von 1779 ist durch ihre einzige reine Terz c-e, welche durch vier mitteltönige Quinten aufgebaut ist, auf C zentriert.“ (Seite 34/35)

Auf Seite 35 beschreibt Kellner als Stimmanweisung für diese Temperatur: „Wer die Teilung einer Terz beherrscht, kann diese Stimmung sofort ganz leicht legen ...die Teilung der reinen Großterz c-e (ergibt) die vier mitteltönigen Quinten c-g-d-a-e. Sodann kommen über e zwei aufeinanderfolgende reine Quinten e-h und h-fis. Fünf weitere reine Quinten stimmt man von c! abwärts bis cis ... die zwölfte Quinte (ist) "durch einen Zufall" nahezu völlig exakt gleichschwebend temperiert und hat sich beim Schließen des Zirkels zwischen aufsteigenden und absteigenden Quintengängen von selbst eingestellt.“

Wolfgang Theodor Meister: Die Orgelstimmung in Italien und Süddeutschland, 1991

C-G-D-A-E je minus 1/4 sK, Fis-Cis minus Schisma (diese Stimmung wird als Kirnberger 3 bezeichnet, wurde aber schon von Sorge, Orgelwerke 1744, S.27 vorgeschlagen) oder:   
C-G minus 2, G-D minus 2 1/2, D-A minus 3 1/2, A-E minus 3 und Fis-Cis minus 1, wobei sich Kirnbergers Angaben auf 1/12 pK beziehen. (siehe T 79)

Seite 65, Fußnote: Zitiert nach: Bellermann, Heinrich, Kirnberger-Briefe an Forkel in >AmZ Neue Folge 6 (1871):

Martin Vogel: Die Lehre von den Tonbeziehungen, 1975

"Bei Vernachlässigung des Schismas ist Kirnberger III eine Quint-Stimmung von fes bis a, bei der das Komma von den letzten vier Quinten abgezogen wird (c bis fes/e) ... Kirnberger 1779 in der dritten Fassung ... unterscheidet sich von Werckmeister nur noch in der Lage der 4. mitteltönigen Quinte. Bei Werckmeister III liegt sie zwischen h und fis/ges, bei Kirnberger liegt sie zwischen a und e." (Seite 236) Die Temperatur, welche Vogel mit Werckmeister III bezeichnet, wird bei Dupont (1935) als Werckmeister I genannt (siehe T 16).

Diese Modifikation mit der „Vernachlässigung des Schismas“ bedeutet, dass nicht das 81/80-syntonische Komma sondern das 312/219-pythagoreische Komma gevierteilt wird.

Helmut K.H. Lange:
Ein Beitrag zur Musikalischen Temperatur der Musikinstrumente, 1968

„Kirnbergers dritte Temperaturfassung aus dem Jahre 1779 ist mit Abstand die beste ... Genau wie in der mitteltönigen Temperatur werden die Terz C-E rein gestimmt und die vier dazwischenliegenden Quinten C-G-D-A-E gleichmäßig temperiert, so daß jede Quinte um ein Viertel des syntonischen Kommas zu eng wird. Die restlichen Quinten sind rein, bis auf die Quinte Fis-Cis, die wieder von selber um ein Schisma zu eng wird.“ (Seite 486)
Die Schismaquinte mit 700.0010 Cent ist in der Tabelle (Seite 496) zwischen die Tonstufen h und fis positioniert!

Etwas weiter im Text relativiert Lange die Gleichmäßigkeit: "Kirnberger gibt für die vier strittigen Quinten Werte an ... C-G = 323/216, G-D = 322/215,333, D-A = 320/214 und A-E = 321/ 214,666." Kirnberger nennt es einen "mathematischen Kunstgriff", dass 321/320 x 322/321 x 323/322 x 324/323 = 81/80 ist. Das bedeutet zunächst, daß Diese vier fast gleichgroßen Intervalle addieren sich zum syntonischen Komma, bedeutender ist aber, dass auf diese Weise die bei der exakten Viertelung des syntonischen Kommas unvermeidlich irrationalen Wurzel-Zahlen in den Intervallquotienten dieser Temperatur umgangen werden.

Bei allen genannten Intervallquotienten ist die Zahl im Zähler um 1 größer als die im Nenner, weshalb diese Brüche auch "überteilige Proportionen" genannt werden, im Barock als "ratio superpartikularis" bezeichnet.

Hans-J. Schugk: Praxis barocker Stimmungen und ihre theoretischen Grundlagen, 1980

Schugk beschreibt eine Entwicklung von der pythagoreischen Stimmung (mit ungeteilter Kompensierung des pythagoreischen Kommas in einer einzigen Quinte des Quintenzirkels) zur gleichschwebend temperierten Stimmung durch zunehmende Teilung des pythagoreischen Kommas in (zwei, drei ... bis zwölf) gleiche Teile. Außer einfachen Kommateilungen und mitteltönige Stimmungen nennt Schugk noch „Mischformen“, denen er „Kirnberger III (1779)“ zuordnet. Das Schema beschreibt er mit: „C-G-D-A-E mittelt.Quinten, E-H-FIS und DES-AS-ES-B-F-C reine Quinten, FIS-DES leicht unterschw Quint ... Die >Kirnberger III-Stimmung< ist zweifelsfrei eine mitteltönige ...“. (Seite 61)

Diese Meinung begründet Schugk mit der bloßen Anwesenheit von Quinten der mitteltönigen Größe 51/4 . Wegen der in dieser Stimmung fehlenden überschwebenden Ausgleichsquinte ist diese Intervallverteilung „Johann Philipp Kirnbergers 3.Stimmung“ nicht mitteltönig, sondern dem „Stimmtyp wohltemperiert“ zugehörig.